Sorry ist etwas lang, aber wer sagt die Wahrheit ist nur von kurzer dauer?
"Das Ende von etwas
Der Familienplanet
Wer Kinder kriegt, betritt eine andere Welt. Nicolas (13), Marten (10) und Lennart (7) bevölkern einen Familienplaneten, auf dem auch Annette und ich leben dürfen.
Seit Eminem von ihm Besitz ergriff, bringt er seinen Brüdern all die Worte bei, die im Radio durch Pieptöne ersetzt werden und schwärmt von beruflichen Tätigkeiten, bei denen man häufiger Schusswunden hat als unsereins Schluckauf.
Hat Nicolas eine neue Musik gefunden, oder hat die Musik einen neuen Nicolas erfunden? Das Ganze ist geheimnisvoll. Wo ist der alte Nicolas hin? Wird er je wieder sein Zimmer aufräumen, nur damit ich mit ihm Fußball spiele? Wie konnten, obwohl sein Bewusstsein vollständig auf die Begriffe "Casting" und "Carsten Spengemann" reduziert war, die niedergepiepten Vokabeln von Eminem bis zu ihm vordringen? Und wenn das einmal geklappt hat, könnten diese Vokabeln dann noch mal ausgetauscht werden? Gegen, sagen wir, Begriffe wie "erweiterter Infinitiv", "Dezimalbruch" oder ein freundliches "Guten Morgen"?
"Wenn Du mit Hausaufgaben fertig bist", ich stehe in seinem Zimmer und spule souverän das ganze Repertoire meiner Erziehungstricks runter, "könnten wir Basketball spielen."
"Wwahs?"
"Du", ich deute auf ihn, "Hausaufgaben! Dann", ich deute auf uns beide, "wir Basketball. Kapiert?" Er liegt auf dem Bett, hat sich den Ball unter den Kopf geschoben und schaut mich lange an. Schweigt. Öffnet schleppend die Lippen: "Würd gern mal gegen Kobe Bryant spielen oder Ben Wallace." - Nicht gegen mich. Die genannten Herren tänzeln schweißglänzend über die Poster an Nicolas' Zimmerwänden, es sind drei Meter hohe Muskeltürme, die einen Basketball quer übers Spielfeld präzise in den Korb spucken. "Weissu", nuschelt Nicolas, "die sind schwarz, die haben Ahnung von Rap."
"Rap, kenn ich auch, klar, Rap, sehr interessant. Ich sehe da literarische Wurzeln bei Walt Whitman und Allen Ginsbergs "Howl' ...", Nicolas' Augen werden trüb, "... na ja, und ich habe auf der letzten Buchmesse dem Erfinder des Rap die Hand geschüttelt."
"Ächt?" Seine Lider flattern.
"Klar, Muhammad Ali", sage ich, "hat mir diese rechte Hand geschüttelt." Ich strecke sie runter zu Nicolas. "Der größte Boxer aller Zeiten. Der Erfinder des Rap."
"Wirklich?" Es gab Jahre, in denen glaubte mir Nicolas jedes Wort.
"Natürlich, Muhammad Ali! Vor dem Kampf gegen Frazier auf den Philippinen rappte er: It will be a killer and a chiller and a thrilla, when I get the gorilla in Manila. Gut was? Da konnte Dein Eminem noch nicht mal richtig pupsen."
Nicolas starrt weiter auf meine rechte Hand. Was vielleicht daran liegt, dass ich sie ihm weiterhin fünf Zentimeter vor seine Nase halte. "Is ja gut Altä", brummt er gnädig, "okay, werfen wirn paar Körbe."
"Und Deine Hausaufgaben?"
"Später", sagt er und wälzt sich in Zeitlupe von der Matratze, "später. Kannst mir dann bei helfen."
"Echt?" sage ich. "Kann ich? Cool." Ich schnapp mir den Ball, gehe raus zum Korb an der Garage und dribble mich schon mal ein bisschen warm und warte, wann Nicolas es endlich mit beiden Füßen bis in seine Turnschuhe schafft".